Therapeuten helfen, unterstützen, befähigen, beraten, massieren, manipulieren, mobilisieren und stürzen sich mit 100% ihres Engagements in die Arbeit.
100% bezeichnet in der Mathematik und Statistik „die Gesamtheit, das Ganze“. (Quelle: https://prozentrechnen-kapiert.de/prozentrechnung-grundbegriffe/; 27.05.2020)
100% für andere geben! Irgendetwas passt hier nicht! Ist es nicht fraglich, wenn jemand sagt er gebe immer 100%?
Wenn wir als Therapeuten 100% geben, bleibt dann nicht (rein rechnerisch) genau 0% übrig? Kann man in der Arbeit 100% geben und dabei trotzdem noch genug Energie für sich selbst, seine Freizeit, seine Freunde, seine Familie haben? Und wenn man bei 0% ist, wie lädt man sich wieder auf, wenn man keinen USB-C-Anschluss hat?
Ich beobachte bei mir und auch KollegInnen, dass die Rechnung nicht aufgeht. Wir sind Therapeuten, weil uns die Gesundheit anderer am Herzen liegt. Wir sind Therapeuten, weil wir den Menschen, die es benötigen die bestmögliche Unterstützung geben möchten, damit sie in ihrer Selbstständigkeit gefördert und in ihrem Alltag gestärkt werden. Dass wir uns selbst dabei aus den Augen verlieren, ist uns oft nicht bewusst.
Erst dann, wenn wir den Urlaub schmerzlich herbeisehnen, die Tage bis zum Wochenende zählen und den Feierabend nicht mehr erwarten können (und zwar dauerhaft – nicht nur, weil wir an diesem einen Abend etwas Besonderes vorhaben), wird uns bewusst, dass etwas nicht stimmen kann. Die Unzufriedenheit wächst. Und das Worst-Case-Szenario kennen wir (meist aus der praktischen Berufsausbildung).
Begriffe wie Achtsamkeit, Selbstliebe, Selfcare und andere mehr oder weniger esoterischen Worte schwirren bereits seit geraumer Zeit durch die Medien. Es gibt unfassbar viele Ratgeber und Bücher über Zufriedenheit, Gelassenheit, Glück. Es ist schon fast ein Trend, zu meditieren und regelmäßig Yoga zu machen. In gewisser Weise ist an diesem Wunsch nach allumfassender mentaler Stärke etwas dran.
In der Psychologie nutzen wir den Begriff der Resilienz. Er bezeichnet „psychische Widerstandskraft; Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen“ (Quelle: https://www.duden.de/rechtschreibung/Resilienz; 27.05.2020).
Ich bin der Ansicht, dass wir nur dann unseren Klienten und Patienten von unserer Energie und unserem Elan etwas abgeben können, wenn wir selbst für uns sorgen und uns um uns selbst kümmern: Was tut mir gut? Wie kann ich meine Resilienz steigern? Was kann ich heute leisten?
In der Ausbildung bekommt das Thema Resilienz, Selbstfürsorge, Achtsamkeit eine immer größere Bedeutung zugeschrieben. Das ist überaus wertvoll! Und umso mehr wünsche ich uns Therapeuten, nicht nur die Gesundheit ihrer Klienten im Blick zu behalten, sondern dass wir uns immer wieder selbst auf die Schulter klopfen und es uns erlauben, einen (gerne großen) Teil unserer Energie bei uns zu lassen. Und ich bin überzeugt, dass dann noch mehr als genug für unsere Arbeit übrigbleibt. Wirklich!
Denn nur, wenn wir uns von den 100% immer wieder auch selbst genug zukommen lassen (wie in einem sich selbst versorgenden Stromsystem), können wir helfen, unterstützen, befähigen, beraten, massieren, manipulieren, mobilisieren…
Lea Marie Miranda
Ergotherapeutin (B.Sc.) und pädagogische Mitarbeiterin
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